Freitag, 24. Januar 2014, 17:15 - 18:45 iCal
157. Institutsseminar des IÖG
Annett MARTINI (FU Berlin), Die "Erfurter Handschriften-Sammlung" als kulturhistorisches Zeugnis jüdischen Lebens im Mittelalter - eine Spurensuche
Hörsaal des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung
Universitätsring 1, 1010 Wien
Vortrag
Als „Erfurter Handschriften-Sammlung“ wird das Konvolut von ursprünglich 17 Handschriften aus dem Besitz der mittelalterlichen jüdischen Gemeinde von Erfurt bezeichnet, das infolge des Pestpogroms im Jahre 1349 in den Besitz des Erfurter Rats gelangte. Die Handschriften wurden bis in die zweite Hälfte des 17. Jahrhunderts in der Erfurter Ratsbibliothek unter Verschluss gehalten, gelangten dann in die Bestände der Bibliothek des evangelischen Ministeriums im Augustinerkloster, von wo sie 1880 an die Königlich Preußische Bibliothek zu Berlin veräußert wurden. Trotz seines außerordentlich hohen kulturellen Wertes ist das Konvolut bislang kaum erforscht. Die Sammlung besteht vorwiegend aus religiös-ritueller Traditionsliteratur, liturgischen Schriften, exegetischen und halachischen Kommentaren, die in dieser oder ähnlicher Gestalt Bestandteil jeder aschkenasischen Gemeindebibliothek hätten sein können. Als reine Textzeugnisse betrachtet sagen die Manuskripte daher kaum etwas über das Leben der Erfurter Juden aus.
Dieser Vortrag wird das Deutungspotential der Materialität der Manuskripte ins Auge fassen. Im Zentrum steht die Frage, inwiefern die Handschriften selbst als soziokulturelle Quellen ihrer Entstehung und Rezeption gelesen werden und damit konkreten Aufschluss über die mittelalterliche jüdische Gemeinde in Erfurt und spätere, christliche Rezipienten geben können. Was sagen etwa die Qualität des Pergaments über ihren Herstellungsort und Auftraggeber, die Tintenwechsel im Text über den Schreibprozess, die Größe des Kodex über seine Bestimmung und Handhabung oder der Buchschmuck über Einflüsse der Umweltkultur aus? Exemplarisch sollen die Möglichkeiten, aber auch die Grenzen einer solchen „Textanthropologie“ diskutiert werden.
Annett Martini studierte Judaistik, Religionswissenschaft und Germanistik an der Freien Universität Berlin und der Hebrew University Jerusalem. Seit Winter 2004 ist sie Mitarbeiterin im Forschungsprojekt „The Kabbalistic Library of Pico della Mirandola“; seit Frühjahr 2005 ist sie als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Judaistik der Freien Universität tätig. Ihre Promotion zum Dr. phil. (Summa cum laude) erwarb sie im Mai 2009 an der Freien Universität Berlin (Tiburtius-Preis 2010: Anerkennungspreis – Preis der Berliner Hochschulen für herausragende Dissertationen). Derzeit arbeitet sie an einer Habilitationsschrift zum Thema „Konzeptionen des rituellen Schreibens im Judentum“. Ihre Forschungsinteressen umfassen die jüdische Philosophie und Mystik im Mittelalter, die christliche Kabbala in der frühen Neuzeit, und Konzepte des rituellen Schreibens.
Veranstalter
Institut für Österreichische Geschichtsforschung
Kontakt
Dr. Eva Stain
Institut für Österreichische Geschichtsforschung
(01) 4277/27202
eva.stain@univie.ac.at
Erstellt am Mittwoch, 08. Januar 2014, 14:40
Letzte Änderung am Donnerstag, 09. Januar 2014, 07:38