Donnerstag, 11. Mai 2023, 11:30 - 13:00 iCal

INTERAKTIONEN - Andreas Kranebitter (Wien)

Auf dem Weg zum Begreifen. „Ritchie Boys“ und ihre Beschreibungen der Konzentrationslager

 

Seminarraum 1, Institut für Zeitgeschichte
Spitalgasse 2-4/Hof 1, Tür 1.13, 1090 Wien

Vortrag


Für viele Soldaten der U.S. Army war die Befreiung der nationalsozialistischen Konzentrationslager traumatisch. Lange Zeit sprachen auch sie, wie zahllose Überlebende der Lager, kaum über ihre Erfahrungen. Einige von ihnen schrieben allerdings in nachrichtendienstlichen Missionen für die Psychological Warfare Division (PWD) des alliierten Oberkommandos SHAEF oder das Office for Strategic Services (OSS) Berichte über die Lager, die damit als erste „Verwissenschaftlichung“ angesehen werden können. Unter den Labels der Propaganda und psychologischen Kriegsführung erhoben sie Informationen auf genuin sozialwissenschaftliche Weise. Die zögerliche propagandistische Verwendung verhinderte ihre spätere wissenschaftliche Rezeption: Nach Kriegsende verschwanden sie spätestens mit Beginn des Kalten Krieges in den Schubladen ihrer Auftraggeber.

In den Nachlässen dreier späterer Sozialwissenschaftler – Albert G. Rosenberg (1918–2014), Joseph W. Eaton (1919–2012) und Morris B. Parloff (1918–2011) – finden sich sowohl offizielle Berichte als auch Briefe, Entwürfe oder Oral-History-Zeugnisse. Diese Quellen erlauben es, ihre Wege quellennah von ihrer Ausbildung in den USA bis zu ihrer Demissionierung nach Kriegsende zu verfolgen, die späteren Sozialwissenschaftler also praxeologisch bei ihren Beobachtungen zu beobachten. In kritischer Distanz zur eigenen Armee entwickelten die „Ritchie Boys“ im Feld ihre eigene sozialwissenschaftliche Praxis. Diese Position war die einzigartige Bedingung der reflexiven Beobachtung der KZ-Gesellschaften, die die heutige Forschung zu den Konzentrationslagern historisch informieren kann.

 

Dr. Andreas Kranebitter ist wissenschaftlicher Leiter des Dokumentationsarchivs des österreichischen Widerstandes (DÖW). Er ist Politikwissenschaftler und promovierter Soziologe und leitete zuvor die Forschungsstelle der KZ-Gedenkstätte Mauthausen und das Archiv für die Geschichte der Soziologie in Österreich (AGSÖ) an der Universität Graz. Im Wintersemester 2021/2022 war er Gastprofessor am Institut für Zeitgeschichte der Universität Wien.

 

Bildnachweis: Joseph Eaton, Soziologe in der „Psychological Warfare Division“ des Supreme Headquarters Allied Expeditionary Force, in seinem Jeep am Weg nach Theresienstadt, 9. Mai 1945 (United States Holocaust Memorial Museum, courtesy of Joseph Eaton; Photograph Number: 60053).

 

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Veranstalter

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Kontakt

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Institut für Zeitgeschichte
4277-41202
marianne.ertl@univie.ac.at