Donnerstag, 03. März 2022, 13:00 - 20:00 iCal

Biographien als Sonden der Transformation?

‚Agency‘ der NS-Täter*innen nach 1945 in der Bundesrepublik, der DDR und Österreich

Aula am Campus der Universität Wien
Spitalgasse 2-4 / Hof 1.11, 1090 Wien

Tagung


Weitere Termine

Freitag, 04. März 2022, 09:00 - 18:00

Workshop

 

Politische Biographien von NS-Täter*innen untersuchen in der Regel neben dem Wirken des einzelnen Täters* oder der einzelnen Täterin* in der Zeit des Nationalsozialismus auch deren Werdegang im späten Kaiserreich, dem Ersten Weltkrieg und der Weimarer Republik, wobei diesbezügliche Studien oftmals der Konstruktion von organisationsbezogenen Kollektivbiographien dienen. Im Zentrum der Neueren Täter*innenforschung stehen dabei Fragen nach Sozialisation, Milieubildung, generationeller Prägung, Karriereverläufen, Gewalträumen und -milieus, mitunter auch nach Geschlecht und Regionalität. So entstehen vielschichtige Täter*innenprofile und -typologien, die Beteiligung und Teilhabe, Mitmachen und proaktives Handeln zu bestimmen helfen. Dieser Fokus der Neueren Täter*innenforschung seit den 1990er Jahren führt immer wieder zu den gleichen, kontrovers diskutierten Fragen: Wer waren die Täter*innen? Welche Handlungsoptionen besaßen sie und unter welchen Bedingungen wurden sie zu Täter*innen? Welche Rahmenbedingungen (Handlungsräume) ermöglichten die Beteiligung an Täter*innschaft und wie lässt sich daher Täter*innenschaft definieren?

Das weitere Wirken der Täter*innen nach dem Zusammenbruch des „Dritten Reiches“ hingegen findet lediglich als Nachgeschichte des Nationalsozialismus, in der „Vergangenheitspolitik“ Erwähnung und wird eher selten als Vorgeschichte der postnationalsozialistischen Gesellschaften interpretiert. Zwar sind in den letzten Jahren eine Reihe von Forschungsarbeiten zu Transformationsprozessen um die makrohistorische Zäsur des Jahres 1945 zum Beispiel in Bundesministerien entstanden, allerdings rückt hier das einzelne Individuum durch den strukturgeschichtlichen Ansatz dieser Studien in den Hintergrund. Durch die fixe Markierung von 1945, von Zusammenbruch und Neuanfang, die sich in den Biographien konstituiert, werden die individuellen Perspektiven des biographischen Subjekts verdeckt. Trotz zahlreicher bekannter Biographien über NS-Täter*innen ist die Biographik als Methode jedoch bisher nicht zu einem zentralen Bestandteil der NS-Täter*innenforschung avanciert, der ‚cultural turn‘ in der Geschichtswissenschaft ermöglichte allerdings neue biographiehistorische Zugänge. Denn ein strukturalistischer Ansatz birgt in sich die Gefahr, in der Analyse zu undifferenzierten Generalisierungen zu gelangen, hinter denen sich die tatsächlich deutlich kontingenteren Möglichkeiten, wie die Biographien von NS-Täter*innen im Hinblick auf Kontinuitäten und Brüche ihrer verschiedenen Karrieren nach dem Ende des Nationalsozialismus verlaufen konnten, nicht erkennen lassen.

 

Transformation

Geschichtswissenschaftliche Studien bemühen sich zum besseren Verständnis eines historischen Komplexes oft – nicht zu Unrecht – um die Markierung von Zäsuren und um Phaseneinteilung. Der Ansatz der biographischen ‚Sonde‘ in Verbindung mit dem unten skizzierten ‚agency‘-Konzept ermöglicht demgegenüber, den Prozesscharakter der Transformation ernst zu nehmen. Die historische Transformationsforschung öffnet die Perspektive auf die individuellen Wahrnehmungen und Deutungen bezüglich kollektiver Umbruchserscheinungen. Ideologisierte gesellschaftliche Wissens- und Erfahrungsbestände verändern sich und prägen die Identität ihrer Träger*innen.

 

Biographik

Der Workshop rückt die Handlungsmacht des biographischen Subjekts ins Zentrum und zielt nicht darauf ab, eine Kollektivbiographie zu konstruieren. Zentrale empirische Grundlage zur historiographischen Analyse sollen dabei vor allem Ego-Dokumente wie Lebensläufe, amtliche Aussagen in Entnazifizierungsverfahren und dergleichen sein. Gemäß dem Diktum von Pierre Bourdieu, wonach autobiographische Selbstzeugnisse stets reine Ex-Post-Konstruktionen sind, die sowohl dem Urheber*/der Urheberin* als auch dem potenziellen Rezipienten* oder der Rezipientin* eine vermeintliche Kohärenz des eigenen Lebens vermitteln und damit sinnstiftend sein sollen, möchten wir uns ansehen, wie das untersuchte biographische Subjekt versucht hat, mit der eigenen NS-Biographie den Übergang ins neue System eigenmächtig zu gestalten.

 

Agency

Oft jedoch wird menschliches Handeln als lediglich reaktiv, stringent und folgerichtig beschrieben. Gegenüber einer vorgegebenen gesellschaftlichen Kollektivstruktur muss sich das individuelle Subjekt verhalten. Das Konzept der ‚agency‘ kann helfen, Makro-, Meso- und Mikroebene zusammen zudenken und dem Subjekt in jeder gesellschaftlichen Konstellation und Situation individuelle Handlungsmacht zuzubilligen. Dabei ist Handeln referenziell in Bezug auf die Struktur, strukturiert diese zugleich und gewinnt besondere Bedeutung im Zuge Gesellschaft transformierender Ereignisse.

So sollen Gesellschaft und Individuum nicht getrennt voneinander betrachtet werden, da sie schließlich immer in wechselseitiger Beziehung zueinanderstehen. Die Biographie soll vielmehr als „Sonde“ (Thomas Etzemüller) für eine integrierte Gesellschaftsgeschichte verstanden werden, „um das Funktionieren der Gesellschaft zu verstehen“. Der Ansatz verspricht die Auflösung der Dichotomie von Makro- und Mikrogeschichte, von ‚structure‘ und ‚agency‘.

 

Wir möchten die im Zuge des geplanten Workshops durch unsere gewählte induktive Herangehensweise gewonnenen Erkenntnisse zur Einzelbiographie unter den unten genannten Fragestellungen schließlich synthetisieren und sehen darin die Möglichkeit, die oben genannte aktuelle Konjunktur von Forschungen zu (Dis-)Kontinuitäten des Nationalsozialismus nach 1945 um eine weitere Perspektive zu ergänzen.

 


Veranstalter

Institut für Zeitgeschichte


Um Anmeldung wird gebeten


Kontakt

Kathrin Janzen
Instut für Zeitgeschichte
+49 1722479624
kathrin.janzen@univie.ac.at