Mittwoch, 01. Juni 2016, 17:15 - 19:00 iCal
Gastvortrag Prof. Volker Hess
Die Papiermaschine. Klinische Forschung im frühen 20. Jahrhundert
Hörsaal 2i im Neuen Institutsgebäude (NIG), 2. Stock
Universitätsstraße 7, 1010 Wien
Vortrag
Die Klinik sei nur der Vorhof, das Labor aber der Tempel der medizinischen Wissenschaft, hatte Claude Bernard in seiner berühmten Introduction a l'Étude de la Médicine Expérimentale (1865) knapp und bündig resümiert. Der umgekehrte Weg war jedoch schwer. Die neuen Verfahren und Erkenntnisse ließen sich nur mühsam aus dem Labor in die Klinik überführen. Mehr noch: Wie Christopher Lawrence und andere gezeigt haben, standen viele Kliniker den neuen Laborwissenschaften distanziert bis kritisch gegenüber. Sie waren zwar bereit, diese wie im Falle der Histopathologie oder Bakteriologie für Diagnose und Behandlung zu nutzen, aber nicht, die klinische Medizin den Laborwissenschaften unterzuordnen. In den letzten Jahren wurden einige Studien zur Zusammenarbeit zwischen Labor und Klinik vorgelegt, die auf die Anwendung laborexperimenteller Verfahren in der Klinik abheben, wie beispielsweise die enge Zusammenarbeit zwischen Chirurgie und experimenteller Physiologie bei der Entwicklung der zerebralen Lokalisationslehre (Guenther 2016) oder der Problem-orientierte pragmatische Einbezug laborexperimenteller Praktiken bei der Lösung schwieriger klinischer Fälle (Sturdy 2007).
Mein Beitrag schlägt eine andere Perspektive auf das schwierige Verhältnis von Klinik und Labor vor. Anhand einer größeren klinischen Studie über das hyperkinetische Syndrom (1925) möchte ich exemplarisch erörtern, wie die Beschreibung und Analyse von psychischen Veränderungen nach einem neurophysiologischen Modell reorganisiert wurde, um unabhängig von klinischen Krankheitsbilder pathophysiologische Reaktionstypen zu identifizieren und darzustellen. Die damit verbundenen clinical activities (Risse/Warner 1992) werde ich von der veröffentlichten Studie über die Datenerhebung und -verarbeitung bis hin zur ursprünglichen Beobachtung am Krankenbett anhand der damals verwendeten Materialien Schritt für Schritt rekonstruieren und zur Diskussion stellen. Schließlich wird der Beitrag auch auf das neue narrative der Falldarstellung eingehen, das diese Verwissenschaftlichung des Pathologischen nach sich zog.
Die genaue Rekonstruktion zeigt allerdings, dass Klinik und Labor nicht durch die Implementation laborexperimenteller Forschungspraktiken enggeführt wurden, sondern durch die Mobilisierung der Schreib- und Verwaltungstechniken des Krankenhauses: Vordrucke und Akten, Registratur und Archiv, Schreibstube und Büro, Stenographie und Matrizendrucker bildeten ein Forschungsinstrument, das – vergleichbar einem physiologischen Kurvenschreiber –medizinisches Wissen organisierte, darstellte und generierte. Dieses Ensemble aus einfachen Materialien und Papiertechniken möchte ich als Papermaschine begriffen wissen.
Volker Hess ist Professor für Geschichte der Medizin an der Charité Berlin.
Veranstalter
Doktoratskolleg "Naturwissenschaften im historischen, philosophischen und kulturellen Kontext"
Kontakt
Mag. Mag. Mag. Ramon Pils, DipTrans
Institut für Geschichte
01 4277 40872
dksciences.geschichte@univie.ac.at
Erstellt am Montag, 23. Mai 2016, 11:24
Letzte Änderung am Donnerstag, 02. Juni 2016, 12:51